Vergessene Geschwister oder: „Kennen Sie Andreas?“

Etwas, was ich an katholischer Frömmigkeit schätze, ist das besondere Bewusstsein für die „Gemeinschaft der Heiligen“. Genauer gesagt: die Erinnerung an die Glaubenden anderer Zeiten und Weltgegenden. Natürlich sind sie nicht anzurufen. Und gut evangelisch sind wir alle Heilige, weil wir zu Christus gehören. Hier gibt es keine himmlischen Stufenordnungen. Doch es kann helfen, sich regelmäßig an andere zu erinnern – als Vorbilder, Wegbegleiter, Geschwister im Glauben. Der Hebräer-Brief beschreibt das eindrücklich mit dem Bild der „Wolke von Zeugen“, die alle auf Jesus Christus verweisen als „Anfänger und Vollender des Glaubens“ (12,1f.). Die „Glaubenden andere Zeiten und Weltgegenden“. Es sind oftmals „vergessene Geschwister“.

Kennen Sie zum Beispiel Andreas? Ich meine den Apostel Andreas, der nach katholischem wie evangelischem Kalender am 30. November seinen Gedenktag hat. Meinem lieben Kollegen Bischof Helmut Dieser aus Aachen verdanke ich eine geistliche Andacht zu ihm.

An Andreas erinnert noch das „Andreas-Kreuz“ mit diagonalen, x-förmigen Balken an Bahnübergängen – an einem solchen Kreuz soll er der Legende nach hingerichtet worden sein. Er spielt eine zentrale Rolle in der orthodoxen Kirche, gilt als Apostel Kleinasiens, als Nationalheiliger von Russen wie Ukrainern, von Rumänen und Schotten.

In den drei synoptischen Evangelien (Mt, Mk, Lk) steht er fast immer im Schatten seines Bruders Simon Petrus. Petrus redet irgendwie ständig und immer als erster; in besonderen Situationen wird Petrus mit Jakobus und Johannes, den Söhnen des Zebedäus, alleine mitgenommen; in mehreren Apostel-Listen rutscht Andreas weg von seinem Bruder nach hinten (Mk 3,18; Apg 1,13).

Andreas, der „vergessene Bruder“, das Ersatzrad im Jünger-Tross, Ahnherr der Stillen in der zweiten Reihe.

Anders dagegen im Johannes-Evangelium, hier spielt Andreas interessanterweise eine besondere Rolle. Gleich dreimal tritt er besonders in Erscheinung und sagt etwas.

1. Andreas, wie Petrus ein Fischer aus Betsaida (Galiläa), ist zunächst ein Jünger von Johannes, dem Täufer. Dann wird er von Jesus als erster berufen (daher sein Beiname Protokletos – „Erstberufener“). Und Andreas ist es, der dann seinen Bruder Petrus auf ihn hinweist: „Wir haben den Messias gefunden!“ (Joh 1,35-42).

2. Auch bei der Speisung der Fünftausend ist es Andreas, der Brücken baut, Menschen vernetzt – und einen Blick für die verborgenen Ressourcen anderer hat. Während die Jünger, namentlich Philippus, noch an der unmöglichen Aufgabe verzweifeln, wie solch eine Menschenmenge in der Einöde sattzukriegen sei – ist es Andreas, der ein Kind zu Jesus führt: „Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist das für so viele?“ (Joh 6,9) Den Blick für Gottes Wunder hat auch er noch nicht. Aber er erkennt, was andere an Gaben mitbringen. Und zwar gerade die Kleinsten.

3. Und noch ein drittes Mal agiert Andreas als „Vernetzer vor dem Herrn“. Kurz vor der Passion kommen Griechen auf die Jünger zu, weil sie Jesus sehen wollen – sie stehen gleichsam für die Verkündigung des Evangeliums an alle Völker. Und wieder ist es Andreas, der gemeinsam mit Philippus ihr Anliegen vor Jesus bringt.

Andreas – er öffnet anderen den Blick für Christus; er erkennt die verborgenen Ressourcen selbst der Kleinsten; er baut Brücken für den Weg des Evangeliums zu fremden Menschen, bis hin zu den fernen Skythen (Schotten).

„Kennen Sie Andreas?“ Wer war ein Andreas bzw. eine Andrea in Ihrem Leben – jemand, der Ihnen den Weg zu Christus gewiesen oder den Blick für verborgene Gaben geöffnet hat? Und für wen sind Sie zum Andreas, zur Andrea geworden?

Es ist gut, sich an die „vergessenen Geschwister“ zu erinnern, die wichtigen Brückenbauer-/innen in der zweiten Reihe.

 


Theologische Impulse (126) von Präses Dr. Thorsten Latzel

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  • 10.12.2022