Stolpersteine berühren mehr als anonyme Zahlen

Seit nahezu 30 Jahren machen sogenannte Stolpersteine auf das Schicksal von Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft aufmerksam. Sie schlagen den Bogen zu Verbrechen, deren Opfer in der direkten Nachbarschaft lebten. Im Viersener Stadtteil Dülken hat ein Verein Stolpersteine für den getauften Juden Abraham Brzozowski und seine Familie verlegt.

In Dülken hat der Verein „Förderung der Erinnerungskultur e.V. Viersen 1933-45“ Stolpersteine gesetzt. Weitere sollen folgen, um auf das Schicksal der ehemals rund hundert Jüdinnen und Juden allein in Dülken aufmerksam zu machen. Die Patenschaft für die Gedenksteine für Abraham Brzozowski und seine Familie hat die Evangelische Kirchengemeinde Dülken übernommen. Brzozowski war bis zu seinem gewaltsamen Tod 1942 Mitglied der Gemeinde.

Einzelschicksale in der Nachbarschaft

Die Biografien der Opfer erforschen jeweils die Initiatorinnen und Initiatoren der Stolpersteine. Michael Guse hat zu Abraham Brzozowski recherchiert. Er hat die Lebensgeschichte des getauften Juden vor allem im Archiv der Kirchengemeinde und anderen Archiven erforscht. Auch Schülerinnen und Schüler suchten nach historischen Dokumenten. Michael Guse hat die Erfahrung gemacht, dass die Geschichte des Dritten Reiches für viele junge Menschen zunächst weit weg ist. Der pensionierte Lehrer und ehemalige Presbyter in Dülken sieht deshalb in den Stolpersteinen einen Weg durch Einzelschicksale in der Nachbarschaft das Unrecht bewusst zu machen. „Mir ist es ein Anliegen, auf die Geschichte hinzuweisen“, sagt er. Und dadurch weckte er auch das Engagement von Schülerinnen und Schülern.

Spuren in Archiven und Adressbüchern

Ausgangspunkt war eine Notiz des Dülkener Pfarrers Wilhelm Veit in einem Bericht zum Kirchenkampf zur Zeit der Naziherrschaft im alten Kirchenkreis Gladbach. „Darin wird auch noch mal deutlich, dass auch so ein ‚einfacher Mann‘ seine Spuren in Archiven und Adressbüchern hinterlassen hat – man muss sie nur suchen und Puzzlestein zu Puzzlestein zusammenführen“, sagt Guse. Der Name Abraham Brzozowski konnte so auch in die Datenbank der Opfer in Yad Vashem in Israel aufgenommen werden. „Die Stolpersteine berühren uns Passantinnen und Passanten eben mehr als anonyme Zahlen“, sagt Guse. Sie machten deutlich, dass es Geschehen in der Nachbarschaft war, wo es eigentlich nicht vermutet wird. „Sie sind eben ein ,Denk-mal-nach‘, das ich berühre, auch wenn ich bewusst nicht drauftrete – und damit werden sie zu einem Stein des Anstoßes“, so Guse.

Aus einer fahrenden Straßenbahn geworfen

Abraham Brzozowski ist 1899 in einer jüdischen Familie in Warschau geboren und kam über Köln durch Heirat nach Dülken. Der gelernte Schneider heiratete die evangelische Christin Wilhelmine Gärtner und ließ sich 1934 taufen. Bis zu seinem Tod lebte er mit Ehefrau und Sohn in Dülken. Pfarrer Wilhelm Veit bemühte sich 1939/40 für ihn um Fluchtmöglichkeiten, hatte aber keinen Erfolg. Für die Nazis und die Nürnberger Rassegesetze war Brzozowski auch mit der Taufe ein Jude und blieb damit der Verfolgung ausgesetzt. Im April 1942 wurde er von einem Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe aus einer fahrenden Straßenbahn geworfen. Laut Pfarrer Veit begleitete der Täter sein Handeln mit den Worten: „Was willst du, dreckiger Jude? Du hast kein Recht, mit der Straßenbahn zu fahren!“ Brzozowski starb wenige Tage später an seinen Verletzungen. Von Gemeindemitgliedern begleitet zog der Trauerzug mit dem Pfarrer an der Spitze durch die Stadt zum Friedhof.

Eine Idee des Künstlers Gunter Demnig

Die Stolpersteine gehen auf eine Idee des Künstlers Gunter Demnig zurück und werden europaweit zum Gedenken an Opfer des nationalsozialistischen Regimes gesetzt. Angefangen hat alles 1992 in der evangelischen Antoniterkirche in Köln. Damals stellte Demnig die ersten 250 Stolpersteine vor. Inzwischen sind mehr als 75.000 der 9,6 mal 9,6 Zentimeter großen Messingplatten am letzten selbstgewählten Wohnort verlegt. Nicht immer stieß die Aktion auf Zustimmung. So kritisierten einige, dass auf den Namen der Opfer getreten werde. Verschiedene Städte entschlossen sich deshalb dazu, Erinnerungswandtafeln oder -stelen zu setzen.

Die Lebens- und Leidensgeschichte der Familie Brzozowski haben Mitglieder der Evangelischen Kirchengemeinde Dülken in einem Videobeitrag vorgestellt.

  • 31.8.2021
  • Ralf Thomas Müller
  • Red