Die wichtigsten Geschichten in der Bibel werden mehrfach erzählt. Egal, ob Schöpfung, Zehn Gebote, Bergpredigt, Speisungswunder. Das ist wie eine mentale Schleife. Ein geistlicher Loop: damit wir in verschiedenen Phasen das eine Wort neu, anders lesen. Oder besser: uns von ihm neu, anders lesen lassen. Versteh Gott nicht so schnell. Und versteh dich selbst nicht so schnell, den Glauben, das Leben, die Liebe.
So ist das auch beim Fischzug des Petrus. Bei Lukas steht er ganz am Anfang des Wirkens Jesu (Lk 5, 1-11). Jesu erste Teambuilding-Maßnahme überhaupt. „Zwölf Jünger sollt ihr sein.“ Und die Motivation des einen, ersten Menschenfischers. Bei Johannes steht der Fischzug ganz am Ende (Joh 21, 1-14). Nach Ostern. Die erste Team-Rebuilding-Maßnahme des Auferstandenen. „Zwölf Jünger sollt ihr sein. Jetzt erst recht.“ Und die Motivation des einen, ersten Menschenhirten, also Pastors. Beide Male geht es dabei um geistlich tiefe Gewässer. Es geht um Erschöpfung, Fülle, Wunder, Schuld, Erschrecken, Berufung, Umkehr. Es geht um bittere Leere und pralle Fülle. Um „tremendum et faszinosum“. Und um eine lebensverändernde Begegnung, nach der nachher nichts mehr ist, wie es vorher war. Folgen wir der Geschichte von Lukas.
Jesus hält eine Predigt. Sie wird sicher gut gewesen sein. Ich meine: Da spricht der Sohn Gottes, Christus persönlich. Doch wie so oft bei Predigten: Worum es genau ging, weiß später keiner mehr so richtig. Ihr Inhalt wird mit keinem Wort erwähnt. Entscheidend ist, was danach geschieht. Nach der Predigt. Als es geistlich ernst wird. Als es zum persönlichen Entscheidungsmoment kommt. Entscheidend ist hier wie so oft die Begegnung mit einer einzigen Person. Diese eine Person gehört zum Staff, zum Personal. Keine Person aus der wohldefinierten Predigt-Zielgruppe. Keine „Monika, 42 Jahre, alleinerziehend, zwei Kinder, spirituell interessiert.“ Sondern einer, der einfach irgendwie da ist. Und genau der Richtige ist, einfach weil er da ist.
Simon, der Fischer. Ein Arbeiter, kerniger Typ, ein Macher. Simon taucht bei Lukas schon früher auf. In Kapernaum ist Jesus bei ihm eingekehrt, er hat seine Schwiegermutter vom Fieber geheilt. Ob das ein Fieber bei ihm entzündet hat, ein religiöses Virus übertragen: keine Ahnung. Jetzt lässt sich Jesus von Simon im Boot ein Stück von den Leuten wegfahren. Der eine spricht, der andere flickt seine Netze und hört zu.
Doch dann, als die Predigt rum ist, beginnt das Eigentliche. Das Ende der wohltemperierten religiösen Rede ist der Anfang existenzieller Begegnung. Jetzt wird’s geistlich heikel. Weil es vom „man“, „ihr“, „wir“ zum „Du“ geht. Und am Anfang steht – die Erschöpfung. Simon hat die ganze Nacht zugebracht. Doch gefischt hat er nüscht. Viel Arbeit für leere Netze. Ein Gefühl, das manche von uns aus dem eigenen Leben oder unseren Gemeinden kennen. Wir flicken viel rum am eigenen Leben. Doch der Erfolg bleibt mitunter übersichtlich. Dann stehst du da nach der Nachtschicht: mit leeren Händen, leerer Seele. Und auch in unseren Gemeinden ist das Gefühl manchem nicht unbekannt: Wir schaffen, machen, arbeiten, tun. Die Geschäftigkeit kirchlicher Prozesse und die Kreativität ihrer theologisch blümeranten Beschreibung stehen dabei mitunter im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Ertrag. Kürzlich fragte mich jemand, ob wir im Landeskirchenamt eigentlich noch wüssten, wie viele Prozesse wir genau am Laufen haben. „Gott, wir haben Nächte um Nächte in Gremien gesessen. Strategien, Konzepte entworfen. Doch unser Fang ist mau und unsere Netze sind allzu oft leer.“
„Und als Jesus aufgehört hat zu reden, spricht er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“ Das ist natürlich konzeptioneller Unsinn.
– Es unterbricht den notwendigen Prozess geistlicher Trauerarbeit der leeren Netze.
– Es widerspricht dem salutogenetischen Gesichtspunkt einer positiven Work-Life-Balance.
– Es unterläuft alle arbeitsrechtlichen Vorschriften zur Burnout-Prophylaxe.
– Ganz abgesehen davon, dass es jedem Erfahrungs- und Expert/innenwissen widerspricht. Man fischt nicht in der Hitze des Tages, wenn die Fische unten schwimmen.
Doch um all das geht es hier nicht. Weil es hier um keine Strategie zur Steigerung regionaler Fischproduktion geht. Auch nicht um ein kommunikatives Motivationskonzept kirchlicher Mitarbeitendengewinnung. Sondern um existenzielle Tiefenerfahrung der ganz anderen Art. „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“ Hier geht es um einen letzten persönlichen Anspruch. Ein existenzielles Wagnis. Die Aufforderung zum Vertrauenssprung. Aller Erfahrung zu trotzen und statt der eigenen Erschöpfung dem Schöpfer zu vertrauen.
„Auf dein Wort hin.“ Simon fährt raus. Die Netze laufen voll, drohen zu reißen. Ein zweites Boot wird benötigt. Die anderen Fischer kommen ins Spiel. Doch paradoxerweise ist die Erfahrung der wundersamen Fülle unerträglicher als die Leere. Weil das mit Gott und uns Menschen nicht so einfach ist. Das hat nichts von der religiösen Banalisierung, dass „wir alle irgendwie unbedingt angenommen sind“. Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen (Hebr 10,13). Weil Gottes Liebe ein Feuer ist, das wir nicht ertragen können. Weil es die Grundfesten unserer Kirchen und unseres Lebens erbeben lässt, wenn Gott wirklich gegenwärtig ist und zu uns spricht.
Da geht es nicht um ein paar moralische Vergehen, sondern um die schiere Unverträglichkeit der unbedingten schöpferischen Liebe Gottes. „Herr, geh weg von mir.“ Die unbedingte schöpferische Liebe Gottes ist unerträglich, wenn sie nicht vom gekreuzigten und auferstandenen Christus vermittelt wird. „Fürchte dich nicht. Siehe, von nun an sollst du Menschen fischen oder genauer formuliert: Leben fangen.“ Wow. Was für eine Verheißung und was für ein Anspruch!
Das halte ich für die eigentliche Krise unserer Kirche: unsere geistliche Selbstverzwergung. „Sorry, God is busy. But how can we help you?“ Wir sind oft so sehr mit dem Flicken unserer Netze beschäftigt, dass wir gar nicht mehr klarbekommen, wer da bei uns ins Boot gestiegen ist. In wessen Namen wir unterwegs sind und was unsere Aufgabe ist. Wir sind Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes und im Auftrag des Schöpfers des Himmels und der Erden unterwegs. Wir sind berufen, im Namen Jesu Christi Leben vor dem Tod zu fangen.
Da spielt es keine Rolle, ob das Glas halb voll oder halb leer oder überhaupt Wasser im Glas ist. Wir glauben an den Gott, der Tote erweckt, der Licht aus Finsternis und dem Nicht-Seienden ruft, dass es sei. Das erste Problem unserer Kirche sind nicht mangelnde Ressourcen. Und ja, natürlich strengt es an, sich kleinerzusetzen, Veränderungsprozesse zu machen. Doch weder volle noch leere Netze entscheiden über das Wohl und Wehe unserer Kirche. Die entscheidende Frage ist:
– Ob ich mich von Gott in die Tiefe rufen lasse, raus aus meiner sanften Religiosität zum Vertrauenssprung: „auf dein Wort hin“ – allen Erfahrungen zum Trotz.
– Und ob ich dann selbst den Mut habe, Menschenfischer, Lebensfänger für andere zu sein.
Es ist gut, wenn wir uns als Christ/innen mutig, stark und beherzt über das austauschen, was unsere geistlichen Tiefenerfahrungen sind. Und über das, was uns den Mut gibt, für andere Lebensfänger zu sein.
Für mich gibt es in der Schweiz oberhalb von Sils Maria einen Ort, wo ich etwas von diesem Glauben besonders spüren kann. In der kleinen reformierten Bergkirche Fex Crasta oben im Fextal. Im Chor der Kirche ist ein altes Fresko freigelegt. Auf ihm ist der leidende Christus am Kreuz zu sehen, der von Gott als Weltenherrscher getragen wird, eingehüllt in dessen roten Mantel aus Liebe. Doch das Gesicht des Weltenherrschers ist das des Gekreuzigten. Für mich ist das ein persönliches tiefes Gewässer, mitten oben in den Bergen. Und es ist gut, einmal im Jahr dort zu fischen. Ein Glaubenszeugnis, gemalt von Menschen vor vielen hundert Jahren in einer kleinen Kapelle – für Zeiten, in denen man meint, die Welt spielt verrückt. „Es wird regiert.“ Von Christus. Von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Und er wird dafür sorgen, dass auch unsere Netze nicht reißen noch leer zurückkommen, wenn wir in seinem Namen unterwegs sind.
Theologische Impulse (159) von Präses Dr. Thorsten Latzel |
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